In Deutschland werden die Webstandards fragmentiert geschrieben von Jan Hellbusch (2011)
Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 1.0 wurden 1999 veröffentlicht. Bis die Version 2.0 veröffentlicht werden konnte, sind fast 10 Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit entstanden überall auf der Welt Richtlinien, Gesetze und andere Regelungen zur digitalen Barrierefreiheit. In vielen Ländern wurden solche Regelungen zwar an die WCAG 1.0 angelehnt, aber es konnten immer wieder Abweichungen zum eigentlichen Webstandard festgestellt werden. Schlimmer noch: In manchen Ländern wurden Richtlinien auf nationaler Ebene festgelegt, aber auf regionaler Ebene oder für kommerzielle Anbieter galten abweichende Regelungen. Ein gutes Beispiel ist Deutschland.
Das Rad wurde zu oft neu erfunden
Als die BITV in 2002 erstmals in Kraft trat, war die Übersetzung der damals geltenden WCAG 1.0 immer wieder ein Thema. Es gab in der BITV inhaltliche Abweichungen, die damit begründet wurden, dass
- Es keine offizielle Übersetzung der WCAG gab
- Es juristische Gründe gab, die Bedeutung mancher Bedingungen zu ändern
- Es durch Nutzertests erwiesen sei, dass die Anforderungen der WCAG nicht ausreichen
Seinerzeit gab es zwar mehrere Übersetzungen der WCAG 1.0, u.a. auch beim W3C, aber sie waren nicht autorisiert. Mittlerweile werden autorisierte Übersetzungen vom W3C unterstützt. Die WCAG 2.0 liegt beispielsweise bereits seit 2009 als offizielle Übersetzung vom W3C vor.
Konkrete Abweichungen der BITV im Vergleich zur WCAG 1.0 waren z.B.:
- In der WCAG waren einige Checkpunkte so formuliert, dass sie vorübergehender Natur waren, indem sie mit "Bis Benutzeragenten …" eingeleitet waren. Diese Formulierung wurde in der BITV weggelassen, so dass auch viele Jahre nachdem Benutzeragenten etwas unterstützten die deutsche Bundesverwaltung nicht erforderliche Maßnahmen ergreifen musste. Dass das Weglassen der Bedingung juristische Gründe hatte, ist dabei nur eine schwache Argumentation: Solche technischen Weiterentwicklungen können auch amtlich festgehalten werden.
- Die Prioritäten 1 und 2 aus der WCAG wurden in der BITV zu einer Priorität zusammengefasst, so dass es insgesamt zwei statt drei Prioritätsstufen gab. Die Zusammenlegung der Prioritätsstufen ist auf Nutzertests zurückzuführen, in denen nachgewiesen wurde, dass die beiden ersten Prioritäten der WCAG 1.0 elementar wichtig für den gleichberechtigten Zugang zum Web durch Menschen mit Behinderungen waren. Im Allgemeinen kann diese Vorgehensweise sicher akzeptiert werden, denn dadurch wird die Nutzbarkeit für Nutzer mit Behinderungen verbessert, aber dennoch stellt diese Herangehensweise ein Alleingang der deutschen Gesetzgebung dar.
In der Zeit nach dem Inkrafttreten der BITV wurden in Deutschland nicht nur Landesgleichstellungsgesetze verabschiedet, sondern auch länderspezifische IT-Verordnungen. Teilweise weichen die anzuwendenden Standards der Länder-Verordnungen von der Bundes-BITV ab. Leidtragende sind hier zunächst die umsetzenden Agenturen und Anbieter von Software, denn sie müssen die Maßstäbe der Barrierefreiheit nach der geografischen Position des Auftraggebers unterschiedlich anlegen. Nicht zuletzt sind aber die Nutzer mit Behinderungen mit unterschiedlichen Qualitätsniveaus von Webseiten konfrontiert.
BITV 2.0 und schon wieder gibt es Abweichungen
Nun verfügen wir mit der BITV 2.0 über eine neue und aktualisierte Verordnung auf der Grundlage der WCAG 2.0. Wie in der Vorgängerversion gibt es Abweichungen zum Original des W3C. Die in der Anlage 1 der BITV 2.0 aufgeführten Anforderungen werden wieder nach 2 statt 3 Prioritätsstufen gegliedert. Die Bedingungen der BITV weichen teilweise inhaltlich von den Erfolgskriterien der WCAG 2.0 ab, indem sie anders formuliert sind und somit auch anders gedeutet werden können oder indem sie teilweise die nicht normativen Techniken einbeziehen. Ist das Kind also schon in den Brunnen gefallen?
Auch wenn die Abweichungen zur WCAG 2.0 meist nicht groß sind, so werden jetzt doch abgewandelte Anforderungen an die Bundesverwaltung gestellt im Vergleich z.B. zu Organisationen, die ihre Webseiten barrierefrei nach WCAG 2.0 erstellen. Hinzu kommt, dass in der BITV 2.0 zusätzliche Anforderungen in der Anlage 2 aufgeführt werden, die in der WCAG 2.0 lediglich in den nicht normativen Techniken vorkommen.
Die Abweichungen in den einzelnen Bedingungen der BITV 2.0 werden in der Praxis letztlich auf eine Konvergenz zur WCAG 2.0 hinauslaufen. Der Grund ist, dass im Gegensatz zur BITV 2.0 die WCAG 2.0 über eine sehr umfangreiche Sammlung an erläuternden Dokumenten verfügt, die u.a. sowohl positive als auch fehlerhafte technische Beispiele für die Barrierefreiheit liefern. Da dieser Fundus regelmäßig aktualisiert wird, auf weitere Techniken ausgedehnt und auf die tatsächlichen Aspekte der Kompatibilität und Interoperabilität angepasst werden, kann nur dort der Stand der Technik abgefragt werden.
Die Anlage 2 der BITV 2.0 mit Kriterien zur Berücksichtigung von Gebärdensprache und von Leichter Sprache stellt ein anderes Problem dar. Bei allem Verständnis für die Berücksichtigung der zusätzlichen Anforderungen: Die Erfolgskriterien der WCAG 2.0 sind alle technisch überprüfbar. Das heißt nicht, dass Barrierefreiheit "validiert" werden kann, aber es ist möglich, alle erforderlichen Aspekte technisch zu ermitteln und diese mit einer Software so aufzubereiten, dass Tester die Barrierefreiheit bewerten können. Die zusätzlichen Anforderungen in der BITV 2.0 sind nicht unbedingt nach diesen hohen Maßstäben ausgearbeitet. Dabei entsteht das generelle Problem, dass das Hinzufügen von Anforderungen in der BITV 2.0 dazu führt, dass die Barrierefreiheit mit unterschiedlichem Maß gemessen wird.
Nun sind die Bundesländer an der Reihe
Während manche Bundesländer ein automatisches Update in der Länder-BITV haben und die aktuelle Bundes-BITV übernehmen, müssen in den meisten Bundesländern eine neue BITV mit aktuellen anzuwendenden Standards erlassen werden.
Hoffentlich muss die Diskussion nicht nochmal von vorne begonnen werden.
Auch wenn die Abweichungen in der BITV 2.0 im Vergleich zur WCAG 2.0 nicht zu begrüßen sind, so müssen die Anforderungen der Barrierefreiheit einheitlich sein. Die Bundesländer haben die Wahl:
- Die WCAG 2.0 zu referenzieren.
- Der Vorteil: Das Dokument ist international anerkannt und verfügt über aktuelle Best-Practice-Beispiele.
- Die BITV 2.0 zu übernehmen.
- Der Vorteil: Die Verordnung ist nach deutschen und europäischen Maßstäben juristisch abgeklopft.
- Eigene Wege zu gehen.
- Der Vorteil: keine.
In den deutschen Bundesländern sollte die BITV 2.0 bzw. die Anlage 1 der BITV 2.0 übernommen werden. Die WCAG 2.0 stellt die objektiv bessere Wahl dar, aber wenn schon auf Bundesebene zur WCAG 2.0 abgewichen wird, dann würden Abweichungen auf Länderebene im Vergleich zur Bundesebene die Fragmentierung weiter fördern. Wenn nicht weltweit, dann sollte zumindest auf nationaler Ebene die Harmonisierung der Regelwerke angestrebt werden.
Zudem kommen ganz praktische Überlegungen dazu, warum eine Abweichung von akzeptierten Standards unproduktiv ist. Nicht nur Schulungen und Informationsressourcen sondern auch Bewertungskriterien müssen sich auf einer vergleichbaren Basis messen lassen. Bei unterschiedlichen Regelungen hinsichtlich der Barrierefreiheit werden Anbieter und Entwickler von Webseiten mit unlösbaren Aufgaben konfrontiert. Wie soll beispielsweise ein Anbieter in einem Bundesland, der eine Internetagentur in einem anderen Bundesland mit der Erstellung eines Webauftritts beauftragt umgehen, wenn der Webauftritt überall genutzt werden kann? Diskussionen dieser Art können zeitintensiv sein und viel Geld kosten.
Wenn die Barrierefreiheit in Deutschland einen Erfolg haben soll, dann müssen alle Beteiligten am gleichen Strang ziehen. Gerade der öffentlichen Verwaltung kommt hierbei eine besondere Rolle zu: sie muss eine Vorbildfunktion übernehmen und ihre Angebote vollständig zugänglich für alle Bürger gestalten. Eine Fragmentierung der Standards wäre kontraproduktiv.
In den meisten Ländern Deutschlands gibt es bereits Landesgleichstellungsgesetze und entsprechende länderspezifische BITV. Den EU-Vorgaben folgend und der Einheitlichkeit wegen müssen auch die Länder die Anforderungen der BITV 2.0 übernehmen. Nur auf diesem Wege ist eine allgemeine Barrierefreiheit in der Informationstechnik möglich.