Barrierefreies Webdesign ein zugängliches und nutzbares Internet gestalten

Das Internet hören und fühlen geschrieben von Niki Slawinski (2005)

Der Nutzenansatz bezogen auf das Internet

"Internet ist so meine Lebensader", antwortet der blinde Schüler Daniel auf die Frage, wofür er das Internet nutze (Gruppendiskussion Marburg 2).

Im Kapitel "Theorie der Gratifikationsforschung" gebe ich einen Überblick über die Entwicklung des Nutzenansatzes und konzentriere mich auf das GS/GO-Modell nach Palmgreen. Anschließend, im Kapitel "Das Medienobjekt Internet", gehe ich auf das Medienobjekt Internet ein und stelle Bonfadellis Kategorien für die Internetnutzungsmöglichkeiten vor. Im Kapitel "Erweitertes GS/GO-Modell mit Blick auf das Internet" erweitere ich das GS/GO-Modell.

Theorie der Gratifikationsforschung

"Was machen die Medien mit den Menschen?", so lautete über Jahrzehnte die zentrale Frage der Wissenschaft, bei der Untersuchung des Verhältnisses von Massenmedien und Gesellschaft (vgl. Renckstorf 1973 S. 183. Diese Art der Herangehensweise wird als "Wirkungsansatz" gekennzeichnet. Diese Perspektive bleibt, so Renckstorf, auf die Perspektive fixiert, ob es dem Kommunikator gelingt, den Rezipienten "im Sinne seiner Vorstellungen zu verändern" (vgl. Renckstorf 1973 S. 187. Der Massenkommunikationsprozess erscheint nach dem Wirkungsansatz einseitig verlaufend, bei dem, überspitzt formuliert, einige Kommunikatoren "aktiv und absichtsvoll" Stimuli produzieren und die Masse der Rezipienten passiv bleibt und lediglich auf Botschaften wartet (vgl. Renckstorf 1973 S. 187. Die Wirkungsforschung fand in der Zeit des zweiten Weltkrieges, ca. 1940, ihren Anfang und hat nach Schenk nicht nur eine lange Tradition, sondern gilt auch als "Motor der Kommunikationsforschung" (vgl. Schenk 2002 S. 693.

Dem Wirkungsansatz steht der Nutzenansatz gegenüber, bei dem die Frage lautet: "Was machen die Menschen mit den Medien?" (vgl. Schenk 2002 S. 627. Der Nutzenansatz wird auch mit den Begriffen "Nutzen- und Belohungsansatz" und "Gratifikationsforschung" beschrieben. Nachdem die Gratifikationsforschung bereits in den 40er Jahren betrieben wurde, erfuhr sie in den 70er Jahren ein "heftiges Comeback" (vgl. Schenk 2002 S. 627. Der Nutzenansatz setzt ein aktives Publikum voraus (vgl. Schenk 2002 S. 631. Katz, Blumler und Gurevitch gehen in den 70er Jahren von folgenden fünf Annahmen aus (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 21ff:

  1. "The audience is conceived of as active, that is, an important part of mass media use is assumed to be goal directed" (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 21. Das aktive Publikum nutzt also die Massenmedien zielgerichtet und stellt des Weiteren mehr oder weniger definierte Erwartungen an das Angebot der Massenmedien.
  2. In dem Prozess der Massenkommunikation geht viel Initiative vom Rezipienten aus. Dieser bestimmt, ob es zu einem Kommunikationsprozess kommt oder nicht. Katz et. al wörtlich über Kinder als Fernsehzuschauer: "It is they who use television rather than television that uses them" (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 21.
  3. Die Massenmedien konkurrieren mit anderen Quellen der Bedürfnisbefriedigung. "Consequently, a proper view of the role of the media in need satisfaction should take into account other functional alternatives" (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 22. Zu diesen funktionalen Alternativen gehören auch konventionelle und "ältere" Wege der Bedürfnisbefriedigung.
  4. Die Rezipienten erkennen ihre Ziele und Bedürfnisse und können beschreiben, aufgrund welcher Motive sie die Massenmedien nutzen, spätestens dann, wenn man sie mit diesen konfrontiert "in an intelligible and familiar verbal formulation" (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 22.
  5. "Audience Orientations are explored on their own terms", so Katz, Blumler und Gurevitch (vgl. Katz / Blumler / Gurevitch 1974 S. 22, das heißt "die Handlungsorientierungen der Rezipienten werden in deren eigenen Kategorien ermittelt, also so, wie sie ihre Nutzung der Massenmedien selbst verstehen", so Schenk (vgl. Schenk 2002 S. 631.

Vom Rezipienten hängt es demnach ab, wie eine Botschaft interpretiert wird (vgl. Renckstorf 1973 S. 190. Das "empfängerorientierte Konzept" unterstellt dem Publikum, dass die Individuen sehr "überrational und selektiv" die Medien nutzen (vgl. Schenk 2002 S. 647. "Medien werden nicht automatisch genutzt", so formuliert es Bonfadelli (vgl. Bonfadelli 2004 S. 168, und so können Massenmedien "auch nur Wirkungen haben, sofern der Rezipient von ihnen Gebrauch macht". Bei der Frage, aus welchen Gründen die Menschen welche Medien nutzen, stellt der Nutzenansatz die Bedürfnisse der Menschen, welche diese durch Mediennutzung befriedigen möchten, in den Mittelpunkt. Bedürfnisse, die befriedigt werden, nennt man "Gratifikationen" (vgl. Schenk 2002 S. 635.

Nach Schenks Modell haben Bedürfnisse soziale und psychologische Ursprünge (vgl. Schenk 2002 S. 631, siehe Abbildung. Die Bedürfnisse erzeugen Erwartungen an die Medien oder an alternative, nicht-mediale Quellen. Aus der darauffolgenden Mediennutzung resultiert eine Bedürfnisbefriedigung oder der Nutzer zieht andere Konsequenzen.

Darstellung der Ursprünge von Erwartungen und die Konsequenzen Abb. 01: Elemente des Nutzen- und Belohnungsansatzes nach Schenk. Soziale und psychologische Ursprünge lassen Bedürfnisse entstehen. Dazu gehören Erwartungen an die Massenmedien. Die Medienzuwendung kann zur Bedürfnisbefriedigung oder zu anderen Konsequenzen führen.

Kritiker bemängeln die "enge Ausrichtung" des Nutzen- und Belohnungsansatzes. Die Konzentration auf die individuellen Gratifikationen würde "die übergeordneten Systeme weitgehend" ausklammern (vgl. Schenk 2002 S. 635.

Einerseits kann der Nutzen- und Belohnungsansatz als "Gegenposition zum Wirkungsansatz" verstanden werden, auf der anderen Seite gab es in der Wissenschaft bereits mehrere Bemühungen, diese beiden Sichtweisen miteinander zu verbinden (vgl. Schenk 2002 S. 631. Wissenschaftliche Arbeiten hätten gezeigt, dass Medienwirkungen in Beziehung zu den Rezipientengratifikationen stehen würden.

Ein wichtiger Schritt wurde in den 70er Jahren durch das GS/GO-Modell vollzogen, so Schenk (vgl. Schenk 2002 S. 637. Hier wird zwischen den gesuchten ("Gratifications Sought", GS) und den erhaltenen Gratifikationen ("Gratifications Obtained", GO) unterschieden (vgl. Palmgreen / Rayburn II 1985 S. 63. Durch die Gegenüberstellung der gesuchten und erhaltenen Gratifikationen lässt sich untersuchen, inwiefern das gegenwärtige Angebot den Wünschen der Rezipienten entspricht und ob eine Umgestaltung Sinn machen würde (vgl. Schenk 2002 S. 637.

Im Erwartungs- und Bewertungsansatz wird der Begriff der "gesuchten Gratifikation" noch näher beleuchtet (vgl. Palmgreen / Rayburn II 1985 S. 63ff. Demnach hätte der Rezipient generell gewisse Erwartungen bzw. Vorstellungen ("Beliefs"), dass ein Medienobjekt X seine gesuchten Gratifikationen erfüllen kann. Der Rezipient bewertet diese bzgl. eines bestimmten Medienobjekts X und beurteilt damit, welche Gratifikationen er mithilfe des Medienobjekts X suchen kann. Durch die Bewertung der Erwartungen ergeben sich also die gesuchten Gratifikationen (GS) (vgl. Schenk 2002 S. 638.

Grafik über die Entstehung von erweiterten Gratifikationen und Konsequenzen auf Bewertungen und Erwartungen Abb. 02: GS/GO-Modell nach Palmgreen. Die Gratifikationen, die der Nutzer durch den Medienkonsum erhält, haben Einfluss auf seine Erwartungen und Bewertungen bzgl. eines Medienobjektes X und damit auf seine gesuchten Gratifikationen.

Das Medienobjekt Internet

Die bisherigen Gratifikationstheorien und die dazugehörigen Studien beziehen sich <v.a. auf die Printmedien, den Rundfunk und das Fernsehen. Erst jüngere wissenschaftliche Überlegungen können das Medium Internet berücksichtigen, dessen World Wide Web seit 1995 eine starke Verbreitung erfuhr.

Bereits 1985 machte Palmgreen darauf aufmerksam, dass die Gratifikationsfoschung auch einen Blick auf die neuen Technologien, wie Telefonkonferenzen, Videokassetten und Videotext werfen soll(vgl. Palmgreen / Wenner / Rosengreen 1985 S. 34 und verwies auf Williams, Phillips und Lum. Diese forderten "new models", also neue Modelle, welche die Vielfalt der neuen Technologien aufgreifen (vgl. Williams / Phillips / Lum 1985 S. 251.

Für das Aufgreifen neuer Technologien bot Drabczynski schon 1982 ein hilfreiches Gedankenkonstrukt an. Er wies auf den wandelnden Informationsbedarf hin und beschrieb die Möglichkeiten und Pflichten neuer Technologien:

Der gesteigerte Informations- und Gratifikationsbedarf einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft setzt aber nicht nur neue Kommunikationstechnologien voraus, sondern auch eine umfangreiche Umgestaltung und Erweiterung des Angebots an medial vermittelten Inhalten, sowie Maßnahmen zur Erleichterung von Informationssuchprozessen. (vgl. Drabczynski 1982 S. 259

Auch wenn Drabczynski 1982 das Internet mit all seinen Möglichkeiten nicht gekannt haben konnte, lassen sich seine Erwartungen an die Entwicklung der Kommunikationstechnologien ausnahmslos auf das Internet übertragen (vgl. Drabczynski 1982 S. 259ff. Das Medienobjekt Internet

Drabczynskis Begriff "Individualisierung der Massenkommunikation" stellt klar, dass das Internet nicht mit Massenmedien wie Printmedien, Rundfunk und Fernsehen verglichen werden kann. Obwohl es als technisches Medium Hundertmillionen von Menschen, auf der ganzen Welt verteilt, gleichzeitig erreicht, bietet es jedem Einzelnen doch ganz individuelle Möglichkeiten (vgl. Drabczynski 1982 S. 259ff. So bietet das Medium Internet jedem Rezipienten die einfache Möglichkeit, selbst Kommunikator zu werden, z.B. über eigene Homepages, über Gästebuch- und Foreneinträge auf Homepages Dritter oder Rezensionen auf Shopseiten. Auch beidseitige Kommunikationsprozesse sind im Internet durch E-Mail im Minutentakt und durch Chatten in Echtzeit möglich. Diese Individualisierung spricht Drabczynski mit seinen Aussagen an. Des Weiteren betont er die Möglichkeit des Internets, Informationssuchprozesse zu vereinfachen und damit ganz spezielle Informationsinteressen zu befriedigen.

Aber auch auf die individuellen Informationszugriffsmöglichkeiten, die sich also von Rezipient zu Rezipient unterscheiden, weist Drabczynski hin. Auf das Medium Internet greifen die Rezipienten tatsächlich mit sehr unterschiedlichen technischen Voraussetzungen zurück. Die Größe des Monitors, die eingestellte Bildschirmauflösung, installierte Plugins (z.B. für Flash), deaktiviertes JavaScript, langsame Modems, abgestellte Lautsprecher und dergleichen sorgen für ganz unterschiedliche Möglichkeiten, das Internet zu nutzen. Ich möchte den von Drabczynski genannten Punkt ergänzen: Zu den technischen Voraussetzungen kommen noch die persönlichen Fähigkeiten des Rezipienten, nämlich sein Know-how, hinzu. Den Fernseher zu bedienen, das Radio einzuschalten oder die Zeitung durchzublättern, erweist sich als nicht schwierig. Die Möglichkeiten der Internetnutzung hängen allerdings von den Fähigkeiten ab, mit dem Computer und der Software umzugehen.

Außerdem ist Drabczynskis Hinweis auf die Behörden, Institutionen und Dienstleister wichtig. Diese Gruppen nehmen im Internet als Kommunikatoren einen wichtigen Stellenwert ein. Das Internet ermöglicht dadurch neue Prozesse z.B. im Bereich von Informationsanfragen, Abwicklung von Formalitäten (Stichwort "E-Government") und beim Einkaufen (Stichtwort "E-Commerce"). Durch all diese Möglichkeiten unterscheidet sich das Internet von Printmedien, Rundfunk und Fernsehen und es treten bei dieser neuen Technologie, wie von Drabczynski vermutet, sozial-psychologisch bedingte Gratifikationen in den Hintergrund.

Bonfadelli nennt vier Kategorien, zu welchem Zweck das Internet genutzt wird: Kommunikation, Informationsabruf, Services und Unterhaltung (vgl. Bonfadelli 2004 S. 77-78. Angelehnt an Bonfadelli ordne ich den Kategorien folgende Beispiele zu.

Im Gegensatz zu Bonfadelli sehe ich "Chatten" als eine Art der "Kommunikation", da es meiner Ansicht nach eine Alternative zu "E-Mails" ist. Demgegenüber habe ich die Liste durch Humor, Filme, Foren, Shopping und andere Beispiele ergänzt.

Erweitertes GS/GO-Modell mit Blick auf das Internet

Die Möglichkeiten der Internetnutzung lassen sich also grundsätzlich in vier Kategorien teilen: Kommunikation, Informationsabruf, Services und Unterhaltung - siehe Kapitel "Das Medienobjekt Internet" und (vgl. Bonfadelli 2004 S. 77-78. Inwieweit der Rezipient seine Bedürfnisse über das Internet innerhalb dieser Kategorien nutzen kann, hängt aber stark von seinen technischen Voraussetzungen, welche Drabczynski als Informationszugriffsmöglichkeiten ankündigte, ab (vgl. Bonfadelli 2004 S. 259ff. Auch die persönlichen Fähigkeiten, mit Computer und Software umzugehen, spielen eine große Rolle. In seinem Specified Model greift Wenner den Punkt "Knowledge" auf und platziert ihn (zusammen mit anderen Punkten) als "general foreground" vor die Begriffe "Beliefs" und "Evaluations" des GS/GO-Modells von Palmgreen (vgl. Wenner 1985 S. 91. Wie oben bereits erläutert, bin ich der Meinung, dass "Knowledge" (= die persönlichen Fähigkeiten oder das Know-how) und auch die technischen Voraussetzungen die Möglichkeiten der Internetnutzung maßgeblich beeinflussen. Des Weiteren halte ich, wie Schenk, die Einbindung der sozialen und psychologischen Ursprünge der Erwartungen und Bewertungen für wichtig. Ich erlaube mir, Palmgreens GS/GO-Modell mit Blick auf das Internet um diese Aspekte zu erweitern (siehe unten).

Generell lässt sich sagen: Je besser die technischen Voraussetzungen und persönlichen Fähigkeiten des Rezipienten sind, desto mehr Möglichkeiten besitzt er, das Internet zu nutzen und gesuchte Gratifikationen zu erhalten. Dies wiederum wirkt sich positiv auf seine persönlichen Erwartungen aus. Durch befriedigende Erfahrungen mit dem Internet, welche auch von seinen Zugriffsmöglichkeiten und seinem Know-how abhängen, werden die Erwartungen des Rezipienten steigern, und er wird in Zukunft mehr Gratifikationen suchen. Die Möglichkeiten, das Internet für Kommunikation, Informationsabruf, Services und Unterhaltung zu nutzen, stellen sich also bei jedem Rezipienten anders dar.

Darstellung des erweiterten GS/G0-Modells Abb. 03: Erweitertes GS/GO-Modell angelehnt an Palmgreen. Das GS/GO-Modell von Palmgreen ergänzt durch den Aspekt der von Schenk genannten sozialen und psychologischen Ursprünge, welche, neben den erhaltenen Gratifikationen, die Erwartungen und Bewertungen bzgl. einer Internetpräsenz X beeinflussen. Die Möglichkeiten der Internetnutzung (=Medienkonsum) hängen von den technischen Voraussetzungen und den persönlichen Fähigkeiten des Internetnutzers ab.